Europa erkl?ren helfen – ein Interview mit dem ukrainischen Schriftsteller Juri Andruchowytsch
W?hrend sechs Monaten arbeitete der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch (geb. 1960) auf Einladung der Kulturstiftung Landis & Gyr in Zug. Zum Abschluss seines Aufenthaltes gab er Auskunft ?ber das Verh?ltnis der Ukraine zu Europa, zu seinen ?sthetischen Vorbildern und zu seiner Wahrnehmung der Schweiz. Das Gespr?ch f?hrten Ulrich M. Schmid und Andreas Breitenstein.
Die Ukraine ist voll im Trend. In Westeuropa werden Sie allerdings eher als intellektueller Botschafter der Ukraine wahrgenommen und weniger als Autor. Bedeutet das politische Interesse an der Ukraine f?r Sie als K?nstler eher eine Chance oder eine Belastung?
Juri Andruchowytsch: Obwohl ich kein Vertreter einer Partei bin, engagiere ich mich politisch sehr stark. Vor der «orangen Revolution» war die Ukraine ein weisser Fleck auf der Landkarte Europas. Dass die Ukraine nun im Ausland ?berhaupt wahrgenommen wird, ist sicher positiv. Viele Kulturerscheinungen wie etwa die ukrainische Kunst, der ukrainische Film oder die ukrainische Literatur sind aber in Europa immer noch viel zu wenig bekannt. Dabei gibt es innerhalb Europas grosse Unterschiede: Ein Problem liegt etwa darin, dass es in Schweden, den Niederlanden oder Frankreich zu wenig literarische ?bersetzer gibt, die das Ukrainische beherrschen.
Sie sprechen sehr gut Deutsch und sind oft in Deutschland. Sie haben auch eine Reihe von deutschen Literaturpreisen erhalten. Was bedeutet Ihnen die deutsche Kultur?
Deutschland ist gewissermassen das n?chste Nachbarland der Ukraine. Hier gibt es ein genuines Interesse an Osteuropa, an das ich ankn?pfen kann. In meiner Jugend habe ich intensiv die Werke von E. T. A. Hoffmann gelesen. Wichtig war f?r mich auch Rilkes fr?he Lyrik, die ich als junger Dichter ins Ukrainische ?bersetzt habe. Am meisten hat mich aber Hermann Hesse mit seiner Idee des «magischen Theaters» aus dem «Steppenwolf» beeinflusst. Auch die phantastische Utopie des «Glasperlenspiels», das Mitte der siebziger Jahre in einer ukrainischen ?bersetzung erschien, habe ich in meinen eigenen Romanen verarbeitet.
Von ?sterreich entt?uscht
Galizien geh?rte zur Habsburgmonarchie. Wie stehen Sie zur kakanischen Tradition?
Urspr?nglich wurde ?sterreich von mir idealisiert, heute bin ich von ?sterreich tief entt?uscht. Anfang der neunziger Jahre lernte ich den k. u. k. Mythos kennen. Die mitteleurop?ische Idee war ganz neu f?r mich, ich schrieb damals meine ersten Essays zu diesem Thema, wie zum Beispiel «Erz-Herz-Perz». Heute grenzt sich ?sterreich scharf von der habsburgischen Tradition ab. Niemand versteht mich, wenn ich in ?sterreich ?ber dieses Thema spreche. Die Leute sagen: Das ist uninteressant und veraltet. ?sterreich ist ein kaltes Land, von dem ich viel getr?umt habe und in dem ich kein Verst?ndnis gefunden habe. F?r diese Gleichg?ltigkeit habe ich mich literarisch ger?cht: M?glicherweise habe ich deshalb in meinen Romanen die ?sterreichischen Protagonisten umkommen lassen und damit gewissermassen den ?sterreicher in mir umgebracht. ?sterreich ist heute zur tiefsten Provinz verkommen, ich war 1997 das letzte Mal dort.
Was f?r einen Eindruck haben Sie von der Schweiz? Kann man die Vielfalt der Nationalkulturen in der Schweiz mit der Ukraine vergleichen?
Die Schweiz hat eine ganz andere Identit?t als Deutschland. Das liegt vor allem an der allt?glichen Ordnung. Alles ist sehr reguliert – zu viel f?r mich. Diese Ordnung ist gut f?r einen kurzen Aufenthalt, aber nicht f?r ein ganzes Leben. In der Schweiz gibt es eine einheitliche Kultur, die in den einzelnen Regionen durch verschiedene Sprachen kodifiziert wird. ?hnlich ist es in der Ukraine: Auch hier gibt es f?r die ukrainische Nationalkultur eine ukrainische und eine russische Auspr?gung. In der Ukraine finden wir noch weitere Sprachen: das Ungarische in Transkarpatien und das Rum?nische in der Bukowina. Allerdings muss man hier von kulturellen Minderheiten sprechen, w?hrend die Russen nicht in der Minderheit sind. In der Schweiz und in der Ukraine gibt es einen Konflikt zwischen den «Hochsprachen» Franz?sisch und Russisch einerseits und den «Bauernsprachen» Schweizerdeutsch und Ukrainisch andererseits. Allerdings kann man in der Schweiz die Sprachgrenze genau bestimmen, w?hrend das Ukrainische und das Russische in der Ukraine nebeneinander existieren und ineinandergreifen. In beiden L?ndern tragen die Sprachen aber einen Kampf um ihre Rolle in der Gesellschaft aus.
Hat die ukrainische Literatur ihre subversive Funktion, die sie in der Sowjetzeit aus?bte, nach der politischen Wende von 1991 verloren?
Die Situation hat sich nat?rlich grundlegend ver?ndert; es gibt heute aber eine andere Art von Subversion. Man lebt zum Beispiel in Kiew und erf?hrt von einem interessanten Buch, das in einer kleinen Auflage in Lemberg erschienen ist. Der Vertrieb solcher B?cher erfolgt ?ber eigene Kan?le im Untergrund der ukrainischen Kultur. Der Untergrund ist nicht mehr eine politische, sondern eine wirtschaftliche Gr?sse. Der ukrainische Buchmarkt ist heute auf kommerzielle Literatur fixiert, auf Krimis und Fantasy, wobei B?cher aus Russland dominieren. Deshalb werden alternative Buchhandlungen organisiert. So haben zwanzig bis dreissig junge Leute in Dnjepropetrowsk einen CD- und Buchvertrieb buchst?blich im Untergrund, in einem Keller, er?ffnet. Das Sortiment wird auch online verkauft – wir haben es hier mit einer eigenartigen Mischung aus Untergrund und Kommerz zu tun.
Ukrainisch ist Mode
In welchem Verh?ltnis stehen die russische und die ukrainische Literatur in der Ukraine?
Es ist hip, Ukrainisch zu sprechen und ukrainische B?cher zu lesen. In der erw?hnten Buchhandlung in Dnjepropetrowsk hatte ich eine Lesung; im Saal waren etwa 500 Zuh?rer. Ich sagte zu den Organisatoren, dass das wahrscheinlich alle Ukrainisch-Leser in dieser russischsprachigen Millionenstadt seien. Man antwortete mir, dass auch neunzig Prozent der im Saal Anwesenden Russen seien, die sich f?r ukrainische Literatur interessierten. Heute treffen junge Autoren in russischsprachigen Regionen der Ukraine eine bewusste Sprachwahl zwischen dem Russischen und dem Ukrainischen. Das hat nichts mit Konjunktur zu tun, sondern ist eine existenzielle Entscheidung. In einem gewissen Sinn legt ein Autor damit ein cognitive mapping fest; er erstellt f?r sich eine eigene Landkarte und definiert seine R?ume, seine Orte.
Vor kurzem ist in Kiew eine Gedichtsammlung einer Autorin erschienen, die gleich gut auf Russisch und auf Ukrainisch schreibt. Das ist die Ausnahme. In der Regel beherrscht ein Schriftsteller eine der beiden Sprachen besser. Auch ich selbst habe einige meiner Essays ins Russische ?bersetzt und dabei festgestellt, dass mir im Russischen einige Nuancen und Ausdrucksm?glichkeiten fehlen. Mein Russisch ist viel ?rmer als mein Ukrainisch. Autoren, die sich f?r das Russische entscheiden, werden von einem anderen Zentrum, von Moskau, angezogen.
Ein Beispiel f?r eine ziemlich komplexe Position stellt der in Kiew lebende Schriftsteller Andrei Kurkow dar. Er ist ethnischer Russe, wurde in Petersburg geboren und schreibt auf Russisch. Kurkow ist ein Pragmatiker: Weil er seine Werke auch auf dem ukrainischen Buchmarkt verkaufen will, ?bersetzt er seine eigenen russischen Texte auch ins Ukrainische. Letztlich ist er ein ukrainischer Schriftsteller, der russisch schreibt.
Ist die ukrainische Literatur ?sthetisch an Europa anschlussf?hig?
Zu hundert Prozent. Junge Autoren richten sich heute ganz nach dem Westen aus. Ein Beispiel ist etwa Ljubko Deresch, dessen B?cher bereits auf Deutsch, Italienisch, Spanisch, Niederl?ndisch und Franz?sisch erschienen sind. Deresch gilt als ein literarisches Wunderkind: Weil er seinen ersten Roman mit sechzehn ver?ffentlichte, dachten viele, es handle sich dabei um eine Mystifikation, der wahre Autor m?sse viel ?lter sein. Deresch und ich haben bei Suhrkamp dieselbe Lektorin, Katharina Raabe. Sie sagt mir immer: Deine B?cher werden von Leuten gelesen, die sich f?r die Ukraine interessieren. F?r Dereschs Leser spielt es keine Rolle, dass er Ukrainer ist. Er schreibt ?ber Themen, die alle Teenager interessieren, egal aus welchem Land sie stammen.
Aus Parodie wird Ernst
Sie stehen unangefochten an der Spitze der ukrainischen Gegenwartsliteratur. Wie ist es, ein lebender Klassiker zu sein?
Eigentlich bin ich schon seit 1990 ein Patriarch. 1985 hatten wir die Gruppe Bu-Ba-Bu («burlesk, balahan, bufonada») gegr?ndet, und f?nf Jahre sp?ter feierten wir unser erstes Jubil?um. Alles, was wir machten, war ironisch gemeint: Ich wurde bei dem hochtrabenden Anlass zum Patriarchen der «Bubabisten» ernannt. In einem gewissen Sinn ist jetzt aus dieser Parodie Ernst geworden. Allerdings will ich kein Lehrer sein, ich m?chte ein Sch?ler bleiben. Deshalb habe ich kaum mehr Kontakt zu den Bubabisten. Wir treffen uns alle Jubeljahre einmal, das letzte Mal 2005 zu unserem zwanzigj?hrigen Bestehen. Meine Freunde sind heute eher junge ukrainische Autoren, die zwischen zwanzig und dreissig Jahre alt sind. Keineswegs bin ich ein Klassiker der ukrainischen Literatur: Klassisch zu sein, heisst f?r mich, tot zu sein.
Der Anfang der neueren ukrainischen Literaturgeschichte zu Beginn des 19. Jahrhunderts steht im Zeichen der Parodie. Planten Sie mit den Bubabisten ebenfalls einen Neubeginn der ukrainischen Literatur?
Unsere eigenen Wurzeln liegen eher bei der ukrainischen Avantgarde der zwanziger Jahre und den Futuristen. Wir merkten dann aber bald, dass unsere Traditionslinien viel weiter zur?ckreichen. Wir entdeckten Anfang der neunziger Jahre die v?llig vergessene ukrainische Barockliteratur. Diese Dichter waren M?nche, die sich in ihren Werken einer Mischung aus der ukrainischen Volkssprache, dem Polnischen, dem Lateinischen und dem Altkirchenslawischen bedienten. Dabei experimentierten sie mit spielerischen Formen wie Palindromen oder Akronymen. Gut beobachten l?sst sich dieser innovative Zugang zur Sprache bei Ioann Welytschkowsky.
Sie gelten als postmoderner Autor. Wie ist Ihr Verh?ltnis zur Postmoderne heute?
Ich glaube immer noch daran, dass die M?glichkeit zur Ver?nderung sehr wichtig ist. Jedes neue Buch eines Autors muss gegen?ber den bisherigen einen Fortschritt darstellen. Ende der neunziger Jahre habe ich mich mit meinen europ?ischen Essays von der Postmoderne als k?nstlerischem Programm verabschiedet. Die Postmoderne bedeutete f?r mich vor allem ein Maskenspiel. Ich war nie ich, sondern versteckte mich unter verschiedenen Identit?ten.
In meinem ersten Roman, «Rekreationen» (1992), habe ich mein Ich auf vier Handlungspersonen aufgeteilt. In «Moscoviada» (1993) hat sich diese Projektion auf einen Protagonisten verengt, in dem ich mich gespiegelt habe. In «Perversion» (1996) tritt zwar nur ein Held auf, dieser Held hat aber vierzig Namen. Damit ist schon die ?usserste Grenze des Spiels mit der eigenen Identit?t erreicht. Mein letzter Roman, «Zw?lf Ringe» (2003), ist bereits v?llig traditionell und realistisch. Wenn dort Professor Doktor ?ber den ukrainischen Avantgarde-Dichter Antonytsch spricht, dann zitiert er aus meiner eigenen Dissertation. Mein neuster Roman heisst «Geheimnis» und ist gleichzeitig ein Geheimnis. Der Protagonist heisst dort direkt Juri Andruchowytsch – ich bin viel offener, aufrichtiger geworden.
Wechselseitige Stereotype
Ihre Werke werden in Amerika und Europa verlegt, Sie selbst sind in allen westlichen Medien pr?sent. Sind Sie schon verwestlicht?
Ich versuche, mich f?r eine gegenseitige Ann?herung zwischen der Ukraine und Europa einzusetzen. In der Ukraine herrscht folgendes Stereotyp: Der Westen sei unglaublich reich, jeder k?nne sich dort alles leisten. Dieser Reichtum beruhe auf der Ausbeutung der Dritten Welt, was zum Teil ja auch stimmt. Die westlichen Stereotype ?ber die Ukraine behaupten genau das Gegenteil. Solche Pauschalurteile irritieren mich. F?r einen Ukrainer ist es kaum m?glich, in den Westen zu reisen und eigene Erfahrungen zu sammeln. Vor allem die Visaregulierungen schr?nken unsere Bewegungsfreiheit stark ein.
F?r neunzig Prozent der Ukrainer leben die Westeurop?er auf einem anderen Planeten. Am schlimmsten ist: Die zehn Prozent, die nach Westeuropa reisen k?nnen, werden in der ?ffentlichen Meinung verd?chtigt und mit der sowjetischen Nomenklatura verglichen. Daraus resultiert eine dramatische Teilung der Gesellschaft. Wenn Ukrainer f?r dreissig Euro nach Paris fliegen und dort Ausstellungen oder das Theater besuchen k?nnten, w?ren sie in der Lage, sich ein eigenes Bild von Westeuropa zu machen. Vielleicht liegt hier meine Aufgabe als Schriftsteller: Zu erkl?ren, wie der Westen funktioniert und weshalb die Ukraine ein integraler Bestandteil Europas ist.
5. M?rz 2007, Neue Z?rcher Zeitung
Джерело: http://www.nzz.ch/2007/03/05/fe/articleEWAQC.html